Kampf gegen Corona: was hält das Strafrecht für Ärzte bereit?
In Italien zeigen sich derzeit dramatische Szenen: zu viele Patienten in kritischem Zustand erreichen die ohnehin schon überfüllten Krankenhäuser. Helfen soll nun die Kriegsmedizin: Behandlungspriorität bekommen Patienten mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit und mehr voraussichtlicher Lebenszeit. Sollte dieses Szenario auch in Deutschland eintreten, konfrontiert dies das ärztliche Fachpersonal mit einer umstrittenen Rechtsfigur für Ausnahmefälle, die bewusst keine gesetzliche Regelung erfahren hat.
In Italien zeigen sich derzeit dramatische Szenen: zu viele Patienten in kritischem Zustand erreichen die ohnehin schon überfüllten Krankenhäuser. Helfen soll nun die Kriegsmedizin: Behandlungspriorität bekommen Patienten mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit und mehr voraussichtlicher Lebenszeit. Sollte dieses Szenario auch in Deutschland eintreten, konfrontiert dies das ärztliche Fachpersonal mit einer umstrittenen Rechtsfigur für Ausnahmefälle, die bewusst keine gesetzliche Regelung erfahren hat.
Um dies näher zu beleuchten, müssen wir in dunklere Zeiten zurückblicken. Zwischen 1940 und 1941 wurden 70.000 Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen systematisch ermordet – ein Verbrechen, dass nach der NS-Zeit mit der Abkürzung „Aktion T4“ bezeichnet wurde und einen Teil der sehr viel größeren „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ darstellte. Im Rahmen der strafrechtlichen Aufarbeitung der „Aktion T4“ stellte sich die Frage, wie mit den beteiligten Ärzten umgegangen werden sollte, die sich in einem unausweichlichen Gewissenskonflikt befanden. Es standen sich die Teilnahme an der Vernichtungsaktion gegenüber, verbunden mit der Chance, zumindest einige Opfer bei der „Selektion“ zu retten und die Weigerung der Teilnahme, mit dem Ergebnis (neben den persönlichen Konsequenzen), dass andere, regimetreue Ärzte geschickt werden, die niemanden verschonen würden. Im Rahmen dieser sog. „Euthanasieprozesse“ erörterte man den gesetzlich nicht kodifizierten übergesetzlichen entschuldigenden Notstand. Eine Rechtsfigur, die bis heute umstritten ist und deren Voraussetzungen wie Struktur ungeklärt sind. Von ihm erfasst sind Fallgestaltungen, in denen der Täter durch sein Handeln – vorsätzlich und rechtswidrig – das Leben eines einzelnen oder einer Gruppe nimmt, um andere Leben zu retten.
Bei einem Szenario, in dem der Arzt die Behandlung eines älteren oder schwächeren Patienten verweigert oder gar abbricht, um einem gleichsam hilfsbedürftigen, aber jüngeren und kräftigeren Patienten zu helfen, greift der rechtfertigende Notstand gem. § 34 StGB nicht ein. Das zu rettende Leben anderer Patienten stellt zwar ein notstandsfähiges Rechtsgut dar. Jedoch fällt die vorzunehmende Interessenabwägung bei der Rechtfertigung von Tötungshandlungen (in diesem Fall durch aktives Unterlassen) zu Lasten des Täters aus, weil das oberste Rechtsgut „Leben“ jeglicher qualitativen und quantitativen Abwägung entzogen ist.
Leben darf niemals gegen anderes Leben abgewogen werden – eine der Kernlehren aus dem Massenmord des Nationalsozialismus. Auch der entschuldigende – schuldausschließende – Notstand gem. § 35 StGB findet in diesen Fällen keine Anwendung. Zwar findet hier keine Güterabwägung mehr statt – es darf also grundsätzlich sogar Leben gegen Leben gestellt werden. Jedoch beschränkt sich der schutzwürdige Personenkreis auf den Täter selbst oder Angehörige bzw. ihm nahestehende Personen. Der die Behandlungen unterlassende Arzt ist in unserem Szenario jedoch nicht selbst betroffen und die erforderliche – die psychische Zwangslage des Täters begründende – Nähebeziehung dürfte bei einer rein formalen „Arzt-Patient-Beziehung“ nicht vorliegen, erst recht nicht in Fällen eines massenhaften Anfalls von Patienten. Da somit kein Anwendungsbereich der §§ 34 und 35 StGB gegeben ist, bleibt im Ergebnis nur der übergesetzliche entschuldigende Notstand als „ultima ratio“, der als ungeschriebener Entschuldigungsgrund die Schuld des Täters entfallen lassen kann. Hierbei ist das Leben eines anderen das einzige geschützte Rechtsgut und die konkrete Tat muss in der speziellen Situation das einzig mögliche Mittel sein, um die Rechtsgutverletzung zu verhindern. Hiervon erfasst ist insbesondere der Fall der sog. „Gefahrengemeinschaft“, d.h. alle Beteiligten befinden sich in einer aussichtslosen Gefahrenlage und zumindest ein Teil der in Gefahr schwebenden Personen wird durch die Handlung des Täters „geopfert“, um den anderen Teil zu retten, da sonst alle Personen verloren wären. In solchen Fällen können Grundwerte der Rechtsordnung, die im Normalfall als unverfügbar gelten, Gegenstand einer notgedrungenen Disposition werden und der Arzt die Nachsicht des Rechts verdienen. Wenn sich angesichts des unvorstellbaren moralischen Drucks in einer solchen Situation ein Arzt zum Handeln entschließt, weil er sich auch dann in schwerste sittliche Schuld verstricken müsste, wenn er den Dingen einfach seinen Lauf ließe, würde jede Strafe eine grobe Ungerechtigkeit darstellen.
Allerdings muss man nicht unbedingt bis in den Nationalsozialismus zurückblicken, um sich des Dilemmas bewusst zu werden, in das ein Mensch unverschuldet hineingeraten kann. Auch im „Fall Daschner“ – in dem der damals stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner dem Tatverdächtigen Magnus Gäfgen Folter androhen ließ, in der Hoffnung dieser würde das Versteck des von Gäfgen entführten Jungen preisgeben, damit er gerettet werden könne (obwohl er diesen bereits kurz nach der Entführung ermordet hatte), wurde das Vorliegen eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstands diskutiert. Das Landgericht Frankfurt verwarf diesen Gedanken allerdings in seinem rechtskräftigen Urteil aus dem Jahr 2004 schließlich. Das Gericht befürchtete dass eine Anwendung des übergesetzlichen Notstands auf Eingriffsbefugnisse der staatlichen Organe zu einem Aufbrechen des geltenden Organisations- und Kompetenzrechts führen könne und der übergesetzliche Notstand zu einer offenen Generalermächtigung führe, der jede verfassungsrechtliche oder gesetzliche Begrenzung von Befugnissen nur als vorläufig qualifizieren würde – ein verbotener dunkler Raum, wie es seinerzeit der Staatsanwalt bezeichnete. Eine Ansicht, die in der Literatur aber nicht unwidersprochen blieb. Von einer zynischen Missachtung des Lebensrechts des Opfers war die Rede, von der Unterordnung des Individuums unter ein angeblich unausweichliches gesellschaftliches Interesse und dem unrettbaren Ende des Rechtsstaats als Ganzem, werde er nicht immer und überall um jeden Preis verteidigt.
Wer hätte gedacht, dass wir nur 15 Jahre später vielleicht an einen Punkt gelangen würden, an dem wir uns diesen existenziellen Fragen unserer Gesellschaft in einer sehr viel größeren Dimension zu stellen haben. Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt…
Der Autor dankt RiLG Dr. Larissa Senuysal für ihre Anregungen und Kommentare zu diesem Artikel.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Daniel Graewe (Vorstand der NORDAKADEMIE-Stiftung)